Warum wir uns an das Potenzial eines Menschen klammern und warum das problematisch ist
- Gesunde Beziehungen
- 6. Feb.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Feb.
Viele Menschen verharren in ungesunden Beziehungen, weil sie an das Potenzial ihres Partners glauben. Sie sehen nicht, was ist, sondern was sein könnte, wenn sich der andere nur ändern würde. Doch warum tun wir das? Und warum ist es oft so schwer, loszulassen?

1. Die Psychologie hinter dem Festhalten am Potenzial
Kognitive Dissonanz: Der innere Konflikt zwischen Wunsch und Realität
Wenn unser Bild von einer Person nicht mit ihrem tatsächlichen Verhalten übereinstimmt, erleben wir kognitive Dissonanz, einen unangenehmen inneren Widerspruch. Um diesen zu reduzieren, neigen wir dazu, negatives Verhalten herunterzuspielen und positive Entwicklungen überzubetonen.
Der „Sunk Cost“-Effekt: Die Angst vor verschwendeter Zeit
Studien zeigen, dass Menschen eher in einer Situation bleiben, wenn sie bereits viel Zeit, Emotionen oder Energie investiert haben, selbst wenn diese Investition keine positiven Ergebnisse bringt (Arkes & Blumer, 1985). Das bedeutet: Je länger wir in einer Beziehung sind, desto schwerer fällt es uns, loszulassen, weil wir die Vorstellung nicht ertragen können, dass all unsere Bemühungen umsonst waren.
Die Macht der emotionalen Bindung
Je länger wir mit einer Person in Verbindung stehen, desto tiefer wird die emotionale Bindung. Bereits nach etwa drei Monaten beginnt unser Gehirn, diese Person als festen Bestandteil unseres Lebens zu betrachten. Dadurch nehmen unsere Gedanken an sie zu, und ein möglicher Verlust wird als bedrohlich empfunden. In solchen Momenten fokussiert sich unser Verstand oft unbewusst auf die positiven Erinnerungen und Qualitäten der Person, während negative Aspekte in den Hintergrund treten. Dieses verzerrte Bild verstärkt die Gedanken, wie "Es war so schön. Wenn es wieder so wäre, wie damals" o.ä.
Die Macht der Projektion: Wir sehen, was wir sehen wollen
Oft projizieren wir unsere eigenen Wünsche und Werte auf den Partner und glauben, dass er sich in eine bestimmte Richtung entwickeln kann. Besonders wenn wir jemanden noch nicht lange kennen, gibt es viele Lücken in unserem Bild dieser Person. Unser Gehirn mag Unklarheiten nicht und neigt dazu, sie mit vertrauten Erfahrungen aus der Vergangenheit zu füllen. Diese können entweder von Angst oder von Hoffnung geprägt sein. Im zweiten Fall entstehen Projektionen, in denen wir unsere eigenen unerfüllten Bedürfnisse auf den anderen übertragen und glauben, dass er sie erfüllen wird. Diese verzerrte Wahrnehmung kann dazu führen, dass wir Warnsignale ignorieren und uns an kleinen Fortschritten festhalten, selbst wenn sich das grundlegende Verhalten nicht wirklich verändert.

Die Wiederholung alter Muster: Heilung durch Anerkennung
Manche Menschen klammern sich an das Potenzial eines schwierigen Partners, weil sie unbewusst alte emotionale Wunden aus der Kindheit heilen wollen. Besonders, wenn ein Elternteil distanziert, unberechenbar oder nur bedingt liebevoll war, kann sich das innere Muster entwickeln: „Wenn ich es schaffe, diese komplizierte Person dazu zu bringen, mich zu lieben, dann bin ich wertvoll.“
Diese Dynamik führt dazu, dass man sich in Beziehungen zu vermeidenden oder widersprüchlichen Partnern hingezogen fühlt, in der Hoffnung, endlich die Anerkennung zu erhalten, die als Kind gefehlt hat. Das Festhalten am Potenzial wird dann zu einem verzweifelten Versuch, das eigene Selbstwertgefühl zu reparieren. Doch anstatt Heilung zu finden, wiederholt sich oft nur das alte Muster aus Unsicherheit und emotionaler Distanz. Der Schlüssel liegt darin, diese Verknüpfung zu erkennen und die eigene Heilung nicht von der Veränderung eines anderen Menschen abhängig zu machen.
Angst vor dem Unbekannten wodurch Vertrautes uns festhält
Auch wenn eine Beziehung schmerzhaft war, bietet sie doch eine gewisse Vertrautheit. Das Loslassen bedeutet, sich auf etwas Neues einzulassen, ohne genau zu wissen, was einen erwartet. Diese Ungewissheit kann beängstigend sein, denn unser Gehirn bevorzugt bekannte Muster, selbst wenn sie uns nicht guttun. Der Schritt ins Unbekannte fühlt sich oft riskanter an als das Festhalten an einer Vergangenheit, die zumindest vertraut und vielleicht wiederkehren kann.
Gesellschaftlicher Druck und Erwartungen
Oft halten Menschen an einer Beziehung oder einer bestimmten Vorstellung von ihrem Partner fest, weil sie glauben, dass Aufgeben keine Option ist. Gesellschaftliche Erwartungen, Filme und Erzählungen vermitteln das Bild, dass wahre Liebe durch alle Schwierigkeiten hindurch bestehen muss. Viele entwickeln dadurch die Überzeugung, dass sie „kämpfen“ oder „durchhalten“ müssen, selbst wenn die Beziehung sie mehr belastet als bereichert. Dieses Festhalten kann verhindern, dass man sich ehrlich eingesteht, dass zwei Menschen vielleicht einfach nicht zusammenpassen.

Bestätigungsfehler und warum wir uns selbst beeinflussen
Unser Gehirn neigt dazu, Informationen so zu verarbeiten, dass sie unsere bestehenden Überzeugungen stützen, ein Phänomen, das als Bestätigungsfehler bekannt ist. Wenn wir an das Potenzial eines Partners glauben, suchen wir unbewusst nach Beweisen, die diese Hoffnung untermauern. Positive Momente oder kleine Veränderungen werden dabei überbewertet, während Warnsignale und negative Verhaltensweisen ignoriert oder heruntergespielt werden. Diese selektive Wahrnehmung verstärkt die Illusion, dass sich die Beziehung doch noch in die gewünschte Richtung entwickeln könnte. Doch in Wahrheit führt sie oft nur dazu, dass wir an einer Hoffnung festhalten, anstatt die Realität klar zu erkennen.
2. Warum das Problematisch ist
Selbstwertverlust und emotionale Erschöpfung
Wer dauerhaft auf die Veränderung eines anderen wartet, stellt die eigenen Bedürfnisse zurück. Dieses Muster kann langfristig das Selbstwertgefühl senken und zu emotionaler Erschöpfung führen, weil man sich ständig in einer Warteposition befindet.
Die Illusion von Kontrolle
Oft glauben wir, wenn wir uns nur genug bemühen, liebevoller oder verständnisvoller sind, dann wird der andere sein Potenzial ausschöpfen. Doch das ist eine Illusion. Veränderung muss intrinsisch motiviert sein und kann nicht erzwungen werden.
Verpasste Chancen
Indem wir an einer Beziehung festhalten, die nicht funktioniert, übersehen wir möglicherweise andere Menschen oder Möglichkeiten, die uns wirklich guttun würden.

3. Wie man sich davon löst
Realität statt Hoffnung bewerten: Frage dich ehrlich: Liebe ich diese Person für das, was sie jetzt ist oder für das, was sie vielleicht eines Tages sein könnte oder einmal war? Mache dir den "Ist-Zustand" bewusst und frage dich, ob du die Person wollen würdest, wenn du sie so, wie sie jetzt ist, kennenlernen würdest.
Eigene Bedürfnisse anerkennen: Deine Wünsche und Grenzen sind wichtig. Habe Empathie für dich und dein Potential.
Akzeptieren, dass Veränderung nicht erzwungen werden kann: Menschen ändern sich nur dann langfristig, wenn sie es selbst wollen und nicht, weil jemand sie dazu bringen möchte.
Loslassen als Selbstschutz verstehen: Manchmal ist es der größte Akt der Selbstliebe, sich von etwas zu lösen, das nicht gut für einen ist.
Kein unerwünschtes Verhalten fördern: Wenn du bei einem Menschen bleibst, der dir nicht das geben kann, was du brauchst, dann förderst du Stagnation. Menschen sind eher bereit an sich zu arbeiten, wenn sie merken, dass sie die andere Person sonst tatsächlich verlieren können. Es geht hier nicht um Manipulation, sondern gesunde Grenzen setzen, wenn die Beziehung nicht deine Standards erfüllt.
Fördere eigenes Wachstum: Versuche dir das, was dir die Beziehung gibt, selbst zu schenken (Liebe, Aufmerksamkeit etc.). Dadurch lernst du dein eigenes Glas zu füllen.
Merke:
An das Potenzial eines Menschen zu glauben, ist an sich nichts Schlechtes. Problematisch wird es jedoch, wenn wir uns dabei selbst verlieren und in einer Beziehung verharren, die uns nicht glücklich macht. Eine gesunde Partnerschaft basiert nicht auf dem, was sein könnte, sondern darauf, was jetzt ist. Die wichtigste Frage, die du dir stellen kannst, ist: Ist das, was ich bekomme, wirklich genug oder lebe ich nur von der Hoffnung auf Veränderung?



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